Gedenkstätte KZ Salaspils – Nicht ohne ideologische Lupe

Von Stefan Reichert

Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht, sagte der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie. Die Geschichte der Insassen des Konzentrationslagers Salaspils erzählt bis heute niemand.

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Zwanzig Kilometer außerhalb von Riga errichteten deportierte Juden aus dem deutschen Reich im Jahr 1941 das Lager in der Nähe der lettischen Hauptstadt Riga. Russische Kriegsgefangene, Juden, politische Gefangene und die Kinder der Verschleppten und Ermordeten, sogenannte Bandenkinder, wurden interniert. Wie viele Menschen hier gefangen waren, ist nicht bekannt. Es finden sich Zahlen von wenigen Tausend bis weit über 200.000 Menschen. Gesichert ist, dass wenige Kilometer entfernt im selben Birkenwäldchen 25.000 Juden von der SS ermordet worden sind.

Die Schönheit des abgeschiedenen Waldes und die milde Nachmittagssonne im Juli trügen. Im Winter herrschen eisige Temperaturen und Stürme, die den harten Überlebenskampf der Insassen ad absurdum führten. Das wissen auch die Überlebenden und Einheimischen, die herkommen, um den Kindern und anderen Insassen ihren Respekt zu erweisen. Sie legen Süßigkeiten und Kuscheltiere an den Fundamenten der Barracken nieder. Vor allem bei den einstigen Kinderbarracken liegen Dutzende Kuscheltiere. Der Anblick eines nassen Teddybären inmitten eines Kinderlagers müsste zu Tränen rühren. Wenn nicht, ja wenn die Gedenkstätte im Jahr 1967 nicht als Symbol der Überlegenheit des sowjetischen Menschen erbaut worden wäre.

Siebzehn Meter hoch ist das Standbild des Mannes in Einheitskleidung gegossen in Stahlbeton. Die Faust hat er zu sozialistischem Gruß in den Himmel gereckt. Er trägt einen entschlossenen und grimmigen Ausdruck im Gesicht. An den Seiten wird er von weiteren Statuen flankiert: ein Mann, der eine in sich zusammengesackte Frau in den Armen hält und einen Insassen der ebenfalls seine Faust zum Gruß hebt. Die Gruppe trägt den Namen „Solidarität, Schwur und Rotfront“. Sozialistischer Pathos, für den die Architekten im Jahr 1970 mit dem Leninorden bedacht wurden. Wenige Meter weiter stemmt sich „der Unbeugsame“ mit der ihm verbleibenden Kraft gegen sein Unheil.

Die Symbolik ist so simpel wie falsch. Das Leben im KZ war weder politisch noch pathetisch – es war pures Überleben. Neben der Aussortierung ungewollter Menschen bestand die Hauptfunktion des Lagers darin, den Willen der Inhaftierten zu brechen. Der Soziologe Wolfgang Sofksy hat die Maßnahmen zu Willensbrechung als Terrorarbeit beschrieben. Es handele sich um Tätigkeiten, die weder gut noch schlecht seien oder einem sinnvollen Ziel dienten. Sie sollten den Insassen brechen und seine verbliebene Lebenskraft bis zum Tod rauben.

Eine Einordnung findet nicht statt. An der monumentalen über zehn Meter hohen begehbaren Betonwand regiert des Pathos: „Hinter diesen Mauern weint die Erde“, ist darauf in großen Lettern zu lesen. Der Lageplan und die Infotafeln im Fundament verraten jedoch nicht, wer hier inhaftiert war oder wie viele Menschen oder warum. Selbst mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Ende sowjetisch verordneter Erinnerung nicht. In einem Land, in dem an jedem 16. März lettische SS- und Wehrmachtsveteranen durch die Rigaer Innenstadt defilieren, ist das wohl nicht gefragt. In diesem Jahr entsandte die deutschen Neonazi-Partei „Die Rechte“ eine Delegation. Ohnehin scheint es Staatsräson zu sein, dass die überwiegende Mehrheit der Letten in deutschen Einheiten in den Krieg gezwungen worden seien. Dies ist nicht oder nur teilweise einer relativ jungen Geschichtswissenschaft geschuldet. In einem Land, in dessen Geschichte die Vergangenheit nie ohne die Lupe der Ideologie betrachtet wurde, wird die tragischen Geschichten Einzelner niemals zählen oder erzählt werden.

Ein Gedanke zu “Gedenkstätte KZ Salaspils – Nicht ohne ideologische Lupe

  1. Ich kann die Einschätzungen des Autors nicht in allen Punkten nachvollziehen: Vor allem die fehlenden Kommentare störten mich nicht. Wer da hinfährt, weiß eh Bescheid. Die brutale Schlichtheit gibt mehr Raum für eigenes Gedenken. Jenseits der Punzierung als Sowjet-Art über die Titel muss man sich die Skulpturen genau ansehen, dann kann das Urteil differenzierter ausfallen. Für mich – überraschender Weise – eine der gelungensten Gedenkstätten. PS: Der lettische Anteil an der Vernichtungsmaschinerie als (halb)blinder Fleck ist wie in den anderen baltischen Staaten(und Polen) meist ausgeblendet. Aber: Wie lange dauerte es, bis der österreichische Opfer-Mythos und die Beteiligung der Wehrmacht öffentlich Thema war?

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