Pulverfass Lettland

Von Stefan Reichert und Martin Senne

Die lettische Regierung betreibt aus Angst vor Russland Politik zu Lasten der russischen Minderheit. Viele von ihnen sind staatenlos und bleiben vom politischen Leben ausgeschlossen. Im Kontext der Ukraine-Krise flammt der Konflikt wieder auf.

Wachwechsel an der Freiheitssäule: "NATO bedingt abwehrbereit" Foto: Anna Steiner

Wachwechsel an der Freiheitssäule: „NATO bedingt abwehrbereit“ Foto: Anna Steiner

Teil 1: Die Angst vor Moskau
Gunars Nagels, ein Herr mit weißem Haar Rauschebart, wird alle zwei Minuten vom Klingeln seines Telefons unterbrochen. Er müsse sich noch einarbeiten, entschuldigt er sich. Seit dem ersten Juli ist er der neue Direktor des Okkupationsmuseums in Riga. “Meine Eltern sind aus Lettland geflohen, nachdem die Rote Armee 1944 einmarschiert ist”, erklärt Nagels seine lettischen Wurzeln – in Englisch mit seinem unverkennbaren australischen Akzent. Er besitzt beide Staatsbürgerschaften. Historiker ist er nicht. Als Naturwissenschaftler und Journalist kam er nach der Unabhängigkeit Lettlands 1991 nach Riga. Von seinem provisorischen Büro blickt er auf das 1935 erbaute Freiheitsdenkmal – ein Symbol für die unabhängige lettische Nation.
Kultur und Sprache der russischen Minderheit in Lettland wird seit dem Zerfall der Sowjetunion mehr und mehr aus der Gesellschaft verdrängt. Viele sind aufgrund eines Nicht-Bürger-Status von der politischen Beteiligung ausgeschlossen. Im jungen lettischen Staat werden alle Überreste der Sowjetunion als Zeichen der verhassten Besatzungsmacht betrachtet. Die Geschichtsbilder von Letten und der russischen Minderheit prallen dabei aufeinander. Aus Angst vor der aggressiven Politik Russlands verstärkt sich der lettische Nationalismus. Die Situation im NATO- Mitgliedsstaat wird dadurch unkalkulierbar – Lettland wird zum Pulverfass.

Hinter der Museumspforte hängen Fotos der Besuche von Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Museumsbesuch ist ein Pflichttermin auch für andere Staatsgäste aus den NATO-Ländern. Derzeit sind aber vor allem amerikanische NATO-Soldaten willkommen. Diese sendeten erst vor kurzem mit einem Manöver in Lettland ein Zeichen nach Moskau.

Angst vor Moskau: "I want Ukraine"

Angst vor Moskau: „I want Ukraine“ Foto: David Ehl

Auch Außenminister Steinmeier und eine Delegation des NATO-Generalstabs sandten ein deutliches Zeichen in Richtung Moskau. Unlängst hat DER SPIEGEL in historischer Kontinuität jedoch vor dem Säbelrasseln gewarnt:NATO bedingt abwehrbereit.

Teil 2: Eine Frage des Geschichtsbilds
Warum in der lettischen Bevölkerung die Angst vor Russland grassiert, ist in der Geschichte beider Staaten begründet. Das aufstrebende russische Zarenreich hatte sich im 18.Jahrhundert das Gebiet des heutigen Lettland einverleibt. Nach dem Ersten Weltkrieg erkämpften lettische Freikorps die Unabhängigkeit, die 1920 von Russland anerkannt wurde. Zwanzig Jahre später bedeutete das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts das vorläufige Ende der lettischen Unabhängigkeit: Mitte 1940 wurde Lettland von Stalins Truppen wieder in sein Sowjetreich eingegliedert. “Innerhalb eines Jahres deportierten die Russen 15.000 Menschen in Viehwagen nach Sibirien“, erläutert Nagels die Folgen. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion eroberte die Wehrmacht Lettland. “Deutschland kommt, um uns von den Russen zu befreien. Das war der erste Gedanke vieler Letten“, erklärt Nagels den Jubel vieler Letten darüber. Dann begann der deutsche Terror gegen Juden, Roma und politische Gegner hinter der Front.

Im Hauptgebäude der Gedenkstätte Salaspils

Im Hauptgebäude der Gedenkstätte Salaspils – Foto: Anna Steiner

Auch lettische SS- Freiwilligendivisionen waren daran beteiligt. Der Name täuscht: Bei Weitem nicht alle hatten sich freiwillig gemeldet. Der Rigaer Viktors Arājs aber schon. Er war für die Ermordung der Hälfte der lettische Juden verantwortlich und verbrachte seinen geruhsamen Lebensabend in Kassel. Die Rote Armee befreite schließlich das Baltikum vom Nationalsozialismus und blieb, trotz des erbitterten Widerstands lettischer Truppen. Lettland wurde als Lettische Sowjetrepublik wieder Teil von Stalins Reich. Die Siedlungspolitik Moskaus brachte dann Hundertausende Sowjets und die russische Sprache nach Lettland. Auch nach dem Ende der Sowjetunion blieben die meisten in Lettland. Etwa dreißig Prozent der Bevölkerung bekannte sich in der Volkszählung 2011 als russisch.
Den Gedenktag am 16. März, der an den lettischen Kampf unter der Hakenkreuzflagge gegen die russischen Besatzer erinnert, können nur die wenigsten der über 600.000 Russlandletten verstehen. Für sie ist es ein Zeichen des wachsenden Nationalismus. An diesem Tag marschieren die lettischen SS- und Wehrmachtsveteranen jedes Jahr durch die Rigaer Innenstadt.
Elizabete Krivcova, Anwältin und Menschrechtsaktivistin für dierussische Minderheit, kann dies nicht akzeptieren: „Das ist eine Tragödie. Die Erinnerung daran ist kein Problem, aber es zu feiern, kann ich nicht nachvollziehen.“ Die russische Minderheit ihrerseits feiert am 9. Mai das Ende des Großen Vaterländischen Krieges vor dem Siegesdenkmal unweit des Daugava-Ufers. ”Es ist nichts offiziell von staatlicher Seite organisiert, sondern von Freiwilligen getragen. Das ist wichtig für unsere Identität. Alle Russen einigt das Fest hier“, erläutert Krivcova die russische Perspektive. Viele Letten erleben das Pathos um den Großen Vaterländischen Krieg als Affront gegen die eigene Nation.

Als Symbol der Besatzer betrachten sie das 1985 erbaute russische Siegesdenkmal, das an die Befreiung Rigas durch die Rote Armee erinnert. Bereits 1997 unternahm die ultrarechte Splittergruppe Pērkonkrusts einen Bombenanschlag auf das Monument, wobei zwei Terroristen starben. Ende 2013 stieß die rechtspopulistische Regierungspartei Nationale-Allianz die Diskussion an, das Denkmal abreißen zu lassen.

Mütterchen Russland an der Siegessäule: "Identifikation für uns Russen" Foto: Anna Steiner

Mütterchen Russland an der Siegessäule: „Identifikation für uns Russen“ Foto: Anna Steiner

„Staatspräsident Andris Bērziņš hat die Diskussion im Keim erstickt, um die russischsprachige Bevölkerung nicht aufzuwiegeln. Das heißt allerdings nicht, dass die Sache nicht wieder hochkocht“, klärt Thomas Rouzanova, Kulturattaché an der deutschen Botschaft in Riga, die Hintergründe auf.
Im ersten Ausstellungsraum des Okkupationsmuseums begrüßt den Besucher der Nachbau eines sibirischen Gulags. Es ist zugleich von prägender Symbolik für Lettlands Erinnerungspolitik. Lettlands Geschichte ist eine der Okkupation und Fremdbestimmung. Nach der Unabhängigkeit sei schnell klar gewesen: Es braucht einen Ort, wo die Besetzung Lettlands im vergangenen Jahrhundert thematisiert wird, erinnert sich Nagels. Sonst könne sich die Geschichte wiederholen.
Davor haben viele Letten Angst. Russlands Annexion der Krim und die russischen Freiwilligenverbände in der Ostukraine bereiten der lettischen Regierung große Sorgen. Sie hoffen auf den Beistand der EU und vor allem der NATO, deren Mitglied das Land trotz früherer gegenläufiger Zusicherungen des Westens an Moskau wurde. Die Situation ähnelt dem historisch viel zitierten Pulverfass Balkan – ein neues Pulverfass Lettland. Dem panslawischen Bestreben Russlands wird angsterfüllt ein gesteigerter Nationalismus entgegengehalten. Der russischen Minderheit, die in Lettlands Hauptstadt Riga immerhin die Hälfte der Einwohner ausmacht, werden peu à peu Minderheitenrechte entzogen. Die Annexion der Krim war von Moskau mit dem Schutz russischer Bürger begründet werden. Eine ähnliche Aktion in Lettland hätte den Bündnisfall der NATO zur Folge.
Elizabete Krivcova wirft der Regierung vor, aus nationalistisch-politischen Motiven die Situation der russischsprachigen Minderheit nicht zu verbessern. Viele der in der Sowjetzeit angesiedelten Russen, die einen Pass der Lettischen Sowjetrepublik hatten, sind de facto staatenlos. Der Nicht-Bürger-Status schließt etwa 280.000 ehemalige Sowjetbürger und die bis zu 500.000 russischen Bürger von der politischen Teilhabe aus. Vor dem EU-Beitritt 2004 hatten Prüfer mehrfach eine effektivere Integrationspolitik und die Abschaffung des Nichtbürgerstatus angemahnt. „Das Land sollte außerdem eine ausreichende Flexibilität beim Übergang zur zweisprachigen Erziehung in Minderheitenschulen sicherstellen“, ist im Monitoring-Bericht der EU zum Beitrittsverfahren 2003 zu lesen. Den EU-Beitritt Lettlands 2004 verzögerte die Problematik nicht.

Okkupationsmuseum: "Spannungen werden von außen angetragen" Foto: Karl Ragnar Gjertsen

Okkupationsmuseum: „Spannungen werden von außen angetragen“ Foto: Karl Ragnar Gjertsen

Gunars Nagels kann die Aufregung nicht verstehen: “Letten und Russen leben hier bemerkenswert gut zusammen.Das sind nur geringe Spannungen. Probleme werden von außen angetragen.“ Dennoch gibt Nagels zu: „Wir haben aber immer noch viele, die sagen, die Deutschen schützten uns vor den Russen. Andere sagen: Die Russen schützten uns vor den Deutschen. Es ist nicht einfach. Manche Letten arbeiteten auch mit den Regimen zusammen.“

Teil 3: Ausgrenzung im Alltag
Trotz aller Beschwichtigungsversuche schwelt der Konflikt weiter. „Es gab eine Initiative zur Änderung der Präambel der lettischen Verfassung. Das kann sich noch richtig entladen“, sagte Thomas Rouzanova. Zukünftig wird darin verankert sein, dass Lettland die Heimat des lettischen Volkes sei. Statt von den Völkern Lettlands wird nun von der lettischen Nation gesprochen. „Das war eine ethnisch- national orientierte Aktion, die juristisch nicht viel ändert. Aber die Symbolik ist klar: Mit euch werden wir nicht sprechen“, interpretiert Krivcova die Initiative.
Aus dem öffentlichen Raum ist die russische Sprache ohnehin verbannt. Ob Pfifferlinge, Kirschen oder Blumen, die Waren auf dem Rigaer Zentralmarkt sind lettisch gekennzeichnet. Darüber wacht die staatliche Sprachpolizei. Ob Geschäftsmann, Taxifahrer oder Marktfrau, niemand bekommt einen Gewerbeschein ohne ausreichende Lettisch-Kenntnisse. Jeder in Lettland kann von der Sprachpolizei unangekündigt überprüft werden. Stets brisant sind Pläne, an den russischen Schulen zukünftig noch mehr Lettisch verpflichtend als Unterrichtssprache einzuführen und den russischen Anteil zu beschränken. Auch Werbung darf nur in der offiziellen Landesprache Lettisch sein. “Das ist das Gesetz. Für uns ergibt sich kein wirtschaftlicher Nachteil”, konstatiert Ritvars Vilus, Marketing-Manager von Lettlands größtem Telekommunikationsunternehmen und Internetanbieter. Im Jahr 2012 gab es ein Volksbegehren, um Russisch als zweite Staatssprache einzuführen. Über 75 Prozent der Wahlberechtigten stimmten gegen diese Verfassungsänderung – bei einer Wahlbeteiligung von über 70 Prozent. Angestoßen hatte die Initiative das sozialdemokratische Harmoniezentrum, das nach der Parlamentswahl 2011 trotz ihres Wahlsiegs nicht an der Regierung beteiligt worden war. Stattdessen koaliert ein Bündnis national-lettisch orientierter Parteien. Dass die Betroffenen nicht an der Abstimmung beteiligt wurden, störte das demokratische Verständnis im Land nicht.
Die rigide Haltung der lettischen Gesellschaft schlägt sich auch in den kulturellen Aspekten wieder. Am Programm für die europäische Kulturhauptstadt sind fast ausschließlich lettische Künstler und Organisatoren beteiligt. Für Aiva Rozenerberga, Stiftungsvorsitzende und Direktorin des Künstlerkollegiums des Programms der Kulturhauptstadt 2014, ist das kein Problem. “Kultur ist keine Politik”, erbost sie sich über die Frage nach der Beteiligung der russischen Bevölkerung.

KGB-Haus: "Kultur ist keine Politik" Foto: David Ehl

KGB-Haus: „Kultur ist keine Politik“ Foto: David Ehl

Dass die Organisatoren nicht gänzlich dieser Ansicht sind, zeigt die vorübergehende Eröffnung des ehemaligen KGB-Hauses. Der sowjetische Geheimdienst befragte und folterte hier Tausende von lettischen Bürgern. Anschließend wurden viele nach Sibirien deportiert. Ein lettischer Witz zu Sowjetzeiten fasst die Geschehnisse auf makabre Weise zusammen. „Das KGB-Haus ist das größte und höchste Haus in Lettland, weil du von hier aus Sibirien sehen kannst“, erzählt Mārtiņš Zvīdriņš, der Besuchergruppen durch das Haus führt.
Wie sich die Situation in Lettland und im Baltikum entwickeln wird, hängt von vielen Faktoren ab. Je länger in der Ukraine gezündelt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Funke auf das Pulverfass Baltikum überspringt. Auf die lettische Integrationspolitik wird es ankommen, ob Verlockungen Moskaus wie die Rente mit 55 bei den Menschen im russisch- dominierten Osten Lettlands verfangen. Gunars Nagels glaubt weiterhin: „ Wenn alle unsere Geschichte hier besserverstehen würden, kämen Russen und Letten auch besser miteinander aus.”

Ein Gedanke zu “Pulverfass Lettland

  1. Der Beitrag deckt sich weitgehend mit meinen Erfahrungen vor Ort. Vor allen die Unterschicht in Riga ist eindeutig russicher Ethnie. Unterschicht ist nicht böse gemeint sondern meint die armen Schlucker, die oft dem Alkohol verfallen und wirklich arm dran sind. Immer wenn man die trifft, reden die russisch, nie lettisch. Meine Lettin am Flughafen hat einen weinrotweißen Schal. Der sieht Bombe aus. Sie lebt wohl in Berlin.

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